Wenn selbst die Atome vor Kälte zittern
Der Physiker Markus Oberthaler stößt in neue Dimensionen
der Thermometrie vor –
Messungen milliardstel Grad über dem absoluten Nullpunkt möglich
Von Johannes Schnurr
Nicht
weniger wichtig als das physikalische Formelwissen sind für Markus
Oberthaler vom Heidelberger Kirchhoff-Institut kreatives Denken,
selbständiges Arbeiten und Freude am Experiment. – Elisabeth Kierig vom
„Womenpower-Team“ versucht Atome am „Tunneln“ zu hindern. Dazu erzeugt
sie im Labor ein mikroskopisches „Erdbeben“. Im Bereich der
Quantenphysik müssen sich auch Wissenschaftler einer metaphorischen
Sprache bedienen, um ihre Forschung zu erklären. Fotos: Schnurr
Wenn es um die
Beschreibung quantenphysikalischer Phänomene geht, sieht sich der Laie
vor ein Problem gestellt. Die Welt der winzigsten Teilchen, der
Quanten, scheint nach völlig anderen Prinzipien zu funktionieren als
die uns umgebende Welt – die Makrowelt. Es gibt dort nichts, woran die
Vorstellungskraft anknüpfen könnte. Die Selbstverständlichkeiten, die
klaren Kausalitäten des Alltags sind auf subatomarer Ebene außer Kraft
gesetzt. Wo im Großen die Ordnung herrscht, scheint im Kleinen das
Chaos zu regieren. Doch eines darf uns dabei trösten: Auch der
Wissenschaftler sieht sich hier vor gravierende sprachliche Hindernisse
gestellt. Sucht er seine Forschungsgegenstände, seine Hypothesen,
Theorien, Entdeckungen zu erklären, muss auch er auf Analogien und
einen ganzen Strauß reichlich bunter Metaphern zurückgreifen.
Regiert im Kleinen das Chaos?
Nicht
anders ergeht es Markus Oberthaler, der seit 2003 am Kirchhoff-Institut
einen Lehrstuhl für Physik innehat, wenn er sein neues hochpräzises
Verfahren zur Temperaturmessung knapp über dem absoluten Nullpunkt
erklärt. Kürzlich gelang es ihm und seinem Team, eine thermometrische
Methode zu entwickeln, die in bislang unzugängliche Bereiche der
Tiefentemperaturmessung vorstößt. Dank dieses Verfahrens konnten in
Heidelberg erstmals Temperaturen im Bereich von 10 Nanokelvin, gemessen
werden, von Temperaturen die 0,00000001 (zehn milliardstel) Grad über
dem absoluten Nullpunkt (also 0 Kelvin oder – 273,15 Grad Celsius)
liegen. Selbst im Weltraum herrscht im Vergleich zu diesen extremen
Werten noch eine „erhöhte Raumtemperatur“ von 2,7 Kelvin vor.
„Zunächst
verdampfen wir Rubidium-Gas“, erklärt Oberthaler das Prozedere,
„welches wir dann mit Hilfe von Lasern sehr stark abkühlen.“
Interessanterweise, das darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen
werden, war es der von 1854 bis 1875 in Heidelberg lehrende Namensgeber
des Instituts, Gustav Robert Kirchhoff, der das Rubidium-Gas entdeckte
und überdies durch die Postulierung des Kirchoff‘schen
Strahlungsgesetzes und der Definition des schwarzen Körpers Grundsteine
für die Quantentheorie des 20. Jahrhunderts legte.
Innerhalb
dieses extrem kalten Gases, die Atome werden von rund 300 Grad Celsius
direkt nach dem Verdampfen in den Nanokelvin-Bereich nahe dem absoluten
Nullpunkt heruntergekühlt, verändern sich deren Materieeigenschaften
gravierend. Es entsteht ein so genanntes Bose-Einstein-Kondensat (BEC),
ein extremer Aggregatzustand, bei dem sich die überwiegende Menge der
Teilchen in ein und demselbem quantenmechanischen Zustand befinden und
sie in einer Art von Gleichtakt schwingen. Im Zustand des
Bose-Einstein-Kondensats zeigen sie sich als ein einziges
makroskopisches Quantenobjekt, dessen Verhalten unter einem „einfachen“
Mikroskop beobachtbar wird. Die zu untersuchenden Teilchen werden mit
Licht gefangen, denn so erst können sie in ihrem spezifischen Verhalten
näher untersucht werden.
Durch Barrieren „tunneln“
„Wir
kühlen etwa 20 bis 30 Atome auf die extreme Temperatur von 10
Nanokelvin ab. Um die Temperatur messen zu können, ohne das Gas
aufzuheizen, muss das Thermometer noch kleiner sein. Dadurch, dass wir
aber rund 1000 Atome im Zustand des Bose-Einstein-Kondensats dazu
bringen, sich wie ein einziges Objekt zu verhalten, haben wir ein
geeignetes Messinstrument“, so Oberthaler.
Festgestellt
wird die Temperatur dieser extrem kalten Atome durch eine Registrierung
des Tunneleffekts. Bei ihm durchdringen Elementarteilchen spontan
Hindernisse, ein Ereignis, das in der Welt der klassischen Physik
unvorstellbar ist. „Bildlich und persönlich gesprochen: Ich wandere
gerne. Aber als Makroobjekt muss ich in meiner Tiroler Heimat immer
über die Berge klettern“, erklärt Oberthaler. „Das müssen unsere
Rubidiumatome, die wir beobachten, nicht. Sie können durch kleine
Barrieren, wenn man so mag: winzige Berge, die wir ihnen in den Weg
legen, einfach hindurch tunneln.“ Mittels dieses Tunneleffekts lassen
sich gezielt zwei Bose-Einstein-Kondensate koppeln. Dank der neu
entwickelten Methode war es nun möglich, aus der Zitterbewegung der
relativen Phase zwischen zwei Bose-Einstein-Kondensaten Rückschlüsse
auf die Temperatur der beobachteten Atome zu ziehen. „Dieses Verfahren
ermöglicht uns erstmals Messwerte, die mit den bisherigen Methoden
nicht zu erzielen waren, und wir können künftig systematisch in einem
Bereich kaum vorstellbar tiefer Temperaturen forschen“, stellt
Oberthaler fest.
Neben Heidelberg befassen sich in
den USA, am „MIT“ in Boston und am „JILA“ in Boulder, aber auch in
Frankreich an der „École normale supérieure“ in Paris und im
österreichischen Innsbruck Wissenschaftler mit vergleichbaren
Fragestellungen. Oberthalers physikalische Experimente interessieren
auch andere deutsche Universitäten, erst im März lehnte der 37-Jährige
einen Ruf nach Münster ab. „Im Neuenheimer Feld bietet man mir alles,
was ich für eine effektive Forschungsarbeit brauche. Hier finde ich
geeignete Räume, die High-Tech-Ausrüstung für die Labore und vor allem
anderen: ein motiviertes Team an Nachwuchswissenschaftlern.“
Das „Quantum engineering“
Denn
ohne sie geht es nicht, sie sind und bleiben die Sherpas der Forschung.
Mindestens zehn Stunden Einsatz pro Tag sind Standard, dafür versucht
Oberthaler ein möglichst gutes Arbeitsklima zu bieten. „Wissenschaft
braucht keinen ernsten, gravitätischen Habitus, einen solchen empfinde
ich sogar eher als kontraproduktiv. Ich möchte vor allem selbständige
und kreative Diplomanden und Doktoranden. Ich schaue mir nicht die
Noten, sondern die Person an. Wer es liebt, Probleme zu lösen, sich
engagiert und im Team bewährt, der kann mitmachen“. Derzeit leitet er
zwei Arbeitsgruppen, intern das „Rubidium-“ und das „Womenpower-Team“
genannt. Ihnen gehören neun Nachwuchsforscherinnen und -forscher vom
Diplomanden bis zum Postdoc an. Finanziert werden die aktuellen
Projekte durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die
Landesstiftung sowie die Universität Heidelberg.
Welche
Anwendungen sich aus den aktuellen Forschungsergebnissen dereinst für
die Praxis ergeben mögen, darauf weiß Oberthaler keine eindeutige
Antwort. „Dies wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt doch noch arge
Spekulation“, lautet seine Einschätzung. „Gleichwohl betreiben wir
Grundlagenforschung, deren Fernwirkung signifikant sein wird. Als in
den 1960er Jahren der Laser erfunden wurde, dachte auch noch niemand an
CD-Spieler, Lichtskalpelle oder das Einlesen eines Warencodes an der
Aldikasse.“
Es scheint sich jedoch eine
vergleichbare Entwicklung anzubahnen, die in Richtung des so genannten
„Quantum engineering“ geht, nämlich dass sich aus der
Grundlagenforschung heraus sukzessive kommerzielle Produkte entwickeln.
Als Beispiele sind dabei gegenwärtig Verfahren der
Quantenkryptographie, bei der Schlüsseldaten auf Quantenebene zwischen
Kommunikationspartnern getauscht werden, sowie auf Quantentechnologie
basierende Computer zu nennen. „Vielleicht ist es ja tatsächlich so,
wie es der Physiker Anton Zeilinger formulierte: Dass unsere Kinder
sich bereits mit Quantenspielzeug die Zeit vertreiben“, resümiert
Oberthaler.
Informationen: www.kip.uni-heidelberg.de/matterwaveoptics
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