J. Claßen - Diplomarbeit

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5. Theorie der Biegeschwingung

5.1 Die Differentialgleichung für die Biegeschwingung

In einem Vibrating-Reed-Experiment werden die elastischen Materialeigenschaften über die Frequenz und die Dämpfung von Biegeeigenschwingungen von dünnen Plättchen gemessen. Die Bewegungsgleichung für eine solche Schwingung läßt sich nicht unmittelbar angeben, da die auftretenden Kräfte zunächst nicht bekannt sind.

Man betrachte ein dünnes Plättchen der Länge $\ell$, Breite $b$ und Dicke $d$. Bei einer Biegedeformation wird die konvexe Seite des Plättchens gedehnt, die konkave gestaucht. Im Innern muß es eine neutrale Fläche geben, deren Länge sich beim Biegen nicht ändert. Abb. 5.1 zeigt einen kleinen Ausschnitt der Länge $dx$ des gebogenen Plättchens in Seitenansicht.

Abb. 5.1: Seitenansicht eines kleinen Teils des gebogenen Plättchens. $d$ bezeichnet die Dicke, $R$ den Krümmungsradius. Die neutrale Fläche in der Mitte des Plättchens hat die Länge $dx$. Der schraffierte Bereich im Abstand $r$ von der neutralen Faser ist im Vergleich zu dieser um $\delta x$ gedehnt.

Das schraffierte Teilstück im Abstand $r$ von der neutralen Fläche erfährt eine Elongation um $\delta x$. Die dabei auftretende Verzerrung ist gegeben durch $e= \delta x/dx = r/R$ und wird hervorgerufen von an der Stirnfläche $dA$ angreifenden longitudinalen Kräften. Für nicht zu große mechanische Spannungen $dF_{\rm x}/dA$ gilt dabei der einfache lineare Zusammenhang

\begin{displaymath}e={-1\over Y}\,{dF_{\rm x}\over dA} \eqno (5.1) \end{displaymath}

mit dem Youngschen Modul $Y$. Die Kraft läßt sich in diesem Fall also schreiben als

\begin{displaymath}dF_{\rm x} = -{Y\,r\,dA\over R} \qquad . \eqno(5.2) \end{displaymath}

Natürlich werden die longitudinalen Kräfte oberhalb der neutralen Fläche die Kräfte unterhalb dieser Fläche gerade kompensieren (sonst ergäbe sich eine Beschleunigung in $x$-Richtung), jedoch resultiert aus der Gesamtheit der Kräfte ein Biegemoment

\begin{displaymath}M = {\int r\,dF_{\rm x}} = {-\int {{Y\,r^2}\over R}\>dA}
= {-{Y\,b\,d^3}\over{12\,R}} = {-{B\over R}} \eqno(5.3) \end{displaymath}

mit der sogenannten Biegesteifigkeit $B$, die (natürlich nur für den Spezialfall gänzlich rechteckiger Geometrie) durch $Yb\,d^3/12$ gegeben ist.

Auf der gesamten Länge $\ell$ des Plättchens wird die Krümmung natürlich nicht unbedingt konstant sein. Der Krümmungsradius kann allgemein beschrieben werden durch den aus der Differentialgeometrie bekannten analytischen Ausdruck

\begin{displaymath}R = {{[1+(\partial z/\partial x)^2]^{3/2}}
\over \partial^2z/\partial x^2} \qquad , \eqno (5.4) \end{displaymath}

wobei z die vertikale Auslenkung aus der Ruhelage ist. Im Falle kleiner Auslenkungen gilt $\partial z/\partial x \ll 1$, so daß der Zähler in Gl.$\,$(5.4) in guter Näherung durch 1 ersetzt werden kann. Somit läßt sich das Biegemoment einfach darstellen als

\begin{displaymath}M = -B\,{\partial^2z\over \partial x^2}
\qquad . \eqno (5.5) \end{displaymath}

Im statischen Gleichgewicht wird die Summe aller an einem Teilstück der Länge $dx$ angreifenden Biegemomente verschwinden. Dies erlaubt die Berechnung der wirksamen transversalen (oder Scher-) Kräfte, denn es muß gelten (vgl. Abb. 5.2):

\begin{displaymath}M(x) - M(x+dx) - F_{\rm z}(x+dx)\, dx = 0 \qquad . \eqno (5.6) \end{displaymath}

Abb. 5.2 Die am Teilstück der Länge $dx$ wirksamen Kräfte und Biegemomente. Die vertikale Richtung ist hier mit dem Index y gekennzeichnet (aus /36/).

Nach übergang zu infinitesimal kleinen Teilstücken $dx$ kann man Biegemoment und transversale Kraft approximieren durch

\begin{displaymath}M(x+dx) = M(x)+{\partial M\over \partial x}\Big\vert_x\,dx \eqno(5.7) \end{displaymath}

sowie

\begin{displaymath}F_{\rm z}(x+dx) = F_{\rm z}(x)+{\partial F_{\rm z}\over \partial x}
\Big\vert_x\,dx \qquad . \eqno(5.8) \end{displaymath}


Einsetzen dieser Ausdrücke in Gl.$\,$(5.6) liefert unter Vernachlässigung des in $dx$ quadratischen Terms das einfache Ergebnis

\begin{displaymath}F_{\rm z} = -{\partial M\over \partial x} \eqno (5.9) \end{displaymath}

oder mit Gl.$\,$(5.5)

\begin{displaymath}F_{\rm z} = B\,{\partial^3z\over \partial x^3} \qquad . \eqno (5.10) \end{displaymath}

Die auf das Teilstück der Länge $dx$ wirkende Nettokraft $dF_{\rm z}$ ist also gegeben durch

\begin{displaymath}dF_{\rm z} = F_{\rm z}(x) - F_{\rm z}(x+dx)
= -{\partial F_{...
...-B\,{\partial^4z\over \partial x^4}\, dx \qquad . \eqno (5.11) \end{displaymath}

Diese Kraft beschleunigt die Masse $dm = \varrho\,d\,b\,dx$ des Segmentes gemäß dem Newtonschen Gesetz:

\begin{displaymath}dm{\partial^2 z\over \partial t^2}
= -B\,{\partial^4z\over \partial x^4}\,dx \qquad . \eqno (5.12) \end{displaymath}

Setzt man die Ausdrücke für $dm$ und $B$ ein und definiert außerdem

\begin{displaymath}v_{\rm Y} := \sqrt{Y \over \varrho} \qquad , \eqno(5.13) \end{displaymath}

ergibt sich schließlich die gesuchte Bewegungsgleichung in der Form

\begin{displaymath}{\partial^2z\over \partial t^2}
= -{d^2\over 12}\,v_{\rm Y}^2\,{\partial^4 z \over \partial x^4}
\qquad . \eqno(5.14) \end{displaymath}

5.2 Lösung unter speziellen Randbedingungen

Mit Hilfe des Separationsansatzes

\begin{displaymath}\underline{z}(x,t) = \underline{\psi}(x)\;\underline{f}(t) \eqno (5.15) \end{displaymath}

(unterstrichene Größen sind komplexwertig, später wird als Lösung nur der Realteil genommen) läßt sich die partielle Differentialgleichung in zwei gewöhnliche aufspalten, von denen die eine sofort durch

\begin{displaymath}f(t) = {\rm Re}(\underline{f}(t))
={\rm const}\>\cos(\omega t+\varphi) \eqno (5.16) \end{displaymath}

gelöst werden kann.

Für den ortsabhängigen Anteil erhält man die Gleichung

\begin{displaymath}{d^4 \underline{\psi}\over dx^4}
= {\omega^4\over v_{\rm Ph}^4}\;\underline{\psi} \eqno (5.17) \end{displaymath}

mit der Phasengeschwindigkeit

\begin{displaymath}v_{\rm Ph} := \sqrt{\omega\,v_{\rm Y}\,d/\sqrt{12}} \qquad . \eqno (5.18) \end{displaymath}

Man beachte, daß die so definierte Phasengeschwindigkeit frequenzabhängig ist. Entsprechend ist die Wellenzahl $ k = \omega/v_{\rm Ph} $ nicht wie gewohnt proportional zur Frequenz, sondern zu deren Wurzel.

Die Differentialgleichung (5.17) kann offensichtlich durch einen Exponentialansatz gelöst werden. Als besonders geeignet zur Darstellung der Lösung erweisen sich die Funktionen

\begin{displaymath}A(kx) = \cosh(kx)+\cos(kx) \end{displaymath}


\begin{displaymath}B(kx) = \sinh(kx)+\sin(kx) \end{displaymath}


\begin{displaymath}C(kx) = \cosh(kx)-\cos(kx) \eqno (5.19\,a-d)\end{displaymath}


\begin{displaymath}D(kx) = \sinh(kx)-\sin(kx) \qquad , \end{displaymath}

die durch Differentiation ineinander übergehen. Die Lösungen haben dann die Gestalt

\begin{displaymath}z(x,t) = \cos(\omega t + \varphi)
[a\,A(kx)+b\,B(kx)+c\,C(kx)+d\,D(kx)] \eqno (5.20) \end{displaymath}

mit reellen Konstanten $\varphi,a,b,c,d$, wobei im folgenden einfach $\varphi = 0$ gesetzt wird. Die übrigen vier Konstanten ergeben sich aus den Randbedingungen, denen das Plättchen unterworfen ist. Der hier interessierende Fall ist derjenige, bei dem das Plättchen an einem Ende (bei $x=0$) fest eingespannt und am anderen Ende ($x=\ell$) frei ist. Dort wirken dann keine Biegemomente und keine Kräfte (Gln.$\,$(5.5), (5.10)), so daß die vier Randbedingungen lauten

\begin{displaymath}z\big\vert_{x=0}\!= 0 \qquad
{\partial z\over \partial x}\Bi...
...over \partial x^3}\Big\vert_{x=\ell}\!= 0 \qquad .\eqno (5.21)
\end{displaymath}

Das Einsetzen dieser Bedingungen in (5.20) liefert nach einigen Umformungen die Beziehung

\begin{displaymath}\cos(k\ell)\,\cosh(k\ell) = -1 \qquad , \eqno (5.22) \end{displaymath}

deren Lösungen sich nur numerisch berechnen lassen. Die zu den erlaubten $k-$Werten gehörenden Eigenfrequenzen kann man darstellen als

\begin{displaymath}f_n = \alpha_n (2n+1)^2 {\pi\over 16 \sqrt{3}}
\>{d\over \ell^2} \> v_{\rm Y}
\qquad n=0,1,2... \eqno (5.23) \end{displaymath}

Die Modenkonstanten $\alpha_n$ haben die Werte

\begin{displaymath}\alpha_0 = 1.424987 \end{displaymath}


\begin{displaymath}\alpha_1 = 0.992249 \end{displaymath}


\begin{displaymath}\alpha_2 = 1.000198 \eqno (5.24) \end{displaymath}


\begin{displaymath}\alpha_3 = 0.999994 \end{displaymath}


\begin{displaymath}\alpha_n \simeq 1\end{displaymath}


\begin{displaymath}\qquad\qquad\hbox{f\uml ur alle weiteren}\;n \quad . \end{displaymath}

Die Frequenzen der Oberschwingungen sind also keine ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz; es gilt vielmehr

\begin{displaymath}f_1/f_0 = 6.267 \qquad f_2/f_0 = 17.548 \qquad f_3/f_0 = 34.387
\qquad \hbox{etc.} \qquad . \eqno(5.25) \end{displaymath}


Als Lösung der Bewegungsgleichung (5.14) unter den Randbedingungen (5.21) erhält man schließlich die Funktion

\begin{displaymath}z_n(x,t) = {1\over 2} \> A_n \> \cos(2\pi f_nt)
\left[C(k_nx...
...{A(k_n\ell) \over B(k_n\ell)}
\> D(k_nx) \right] \eqno (5.26) \end{displaymath}

mit $A_n$, der Maximalamplitude am freien Ende, und der Wellenzahl der Eigenschwingungen

\begin{displaymath}k_n=
\pi/2\ell\;(2n+1)^2\;\sqrt{\alpha_n} \qquad . \eqno (5.27) \end{displaymath}

Die Verzerrungsamplituden für die verschiedenen Moden ergeben sich aus (5.26) durch zweimaliges Differenzieren nach $x$. Die Abbn. 5.3, 5.4 zeigen (stark übertrieben) die Auslenkungs- und Verzerrungsamplituden für die ersten vier Schwingungsmoden.


Abb. 5.3 Die Schwingungsamplitude des Reeds für die vier niedrigsten Frequenzen. Die Plättchenlänge ist hier mit L gekennzeichnet.
 
 
 
Abb. 5.4 Die entsprechenden Verzerrungsamplituden der vier niedrigsten Moden für festes $r\ne 0$. Die maximale Verzerrung ergibt sich stets am Ort der Einspannung.
 
 
 


Bei einem Vibrating-Reed-Experiment kann man die Meßfrequenz offensichtlich nicht frei wählen, sondern ist auf die Eigenfrequenzen des Plättchens beschränkt. Im allgemeinen ist die Probendicke $d$ fest vorgegeben, so daß man die Schwingungsfrequenz nur noch grob durch Wahl einer bestimmten Länge $\ell$ einstellen kann.


5.3 Die gedämpfte Schwingung

Durch Einführen eines komplexen Youngschen Moduls

\begin{displaymath}\underline{Y} = Y^{\prime}+iY^{\prime\prime} = Y^{\prime}(1+i\eta)
\eqno (5.28) \end{displaymath}

in der Schwingungsgleichung (5.14) läßt sich auch die innere Dämpfung des Plättchens sehr einfach berücksichtigen. Der sogenannte Verlustfaktor $\eta$ ist im Falle kleiner Dämpfung mit der inneren Reibung $Q^{-1}$ identisch, die im Experiment gemessen wird /37/.


Ein Lösungsansatz der Form

\begin{displaymath}\underline{z}(x,t) = \underline{A}\,e^{-t/\tau}\,e^{i\omega t}\, \psi (x) \eqno (5.29) \end{displaymath}

liegt nahe. $\tau$ kennzeichnet die Zeit bis zum Abklingen der Schwingungsamplitude auf $1/e$. Einsetzen in die Bewegungsgleichung und Vergleich der Imaginärteile führt auf die Beziehung

\begin{displaymath}Q^{-1} \simeq \eta = {1\over \pi f_n\tau} \qquad , \eqno (5.30) \end{displaymath}

wobei $\eta \ll 1$ angenommen wurde, so daß Gl.$\,$(5.23) nach wie vor Gültigkeit hat, die Verschiebung der Resonanzfrequenz durch die Dämpfung also vernachlässigbar klein ist. Aus der Beobachtung des Amplitudenzerfalls läßt sich somit die innere Reibung bestimmen (siehe auch Kap.$\,$6.2.2).


5.4 Die erzwungene Schwingung

Die erzwungene Schwingung wird beschrieben durch die inhomogene Differentialgleichung

\begin{displaymath}{\partial^2z\over \partial t^2}
+{d^2\over 12}\,v_{\rm Y}^2\...
...artial^4 z \over \partial x^4}
= f(x,t) \qquad . \eqno (5.31) \end{displaymath}

$f(x,t)$ stellt die Kraft dar, die auf die Masse $dm = \varrho\,d\,b\,dx$ im Abstand $x$ von der Einspannung wirkt.

Die Funktionen $z_n$ aus Gl.$\,$(5.26) sind orthogonal

\begin{displaymath}\int\limits_0^{\ell} z_n\,z_m\, dx
= \delta_{nm}\,\int\limits_0^{\ell} z_n\,z_m\, dx
= \delta_{nm}\, N_n \eqno (5.32) \end{displaymath}

und zudem vollständig; daher läßt sich für beliebige Frequenzen die Lösung der inhomogenen Differentialgleichung (5.31) als Linearkombination der freien Eigenfunktionen $z_n$ darstellen. Es gilt somit /38/

\begin{displaymath}z(x,\omega) = \sum_{n=0}^{\infty}\,a_n(\omega)\,
z_n(x,k_n) \eqno (5.33) \end{displaymath}

mit

\begin{displaymath}a_n(\omega) = {1\over N_n\, (\omega_n^2-\omega^2)}
\int\limits_0^{\ell} z_n(x,k_n)\> f(x)\> dx
\qquad . \eqno (5.34) \end{displaymath}

Im Falle einer nur am freien Ende des Plättchens angreifenden Kraft

\begin{displaymath}f(x) = F\;\delta(x-\ell) \eqno (5.35) \end{displaymath}

vereinfacht sich (5.34) zu

\begin{displaymath}a_n(\omega) = {F\over N_n\, (\omega_n^2-\omega^2)}
\>z_n(\ell,k_n) \qquad , \eqno (5.36) \end{displaymath}

so daß sich nun (5.33) schreiben läßt als

\begin{displaymath}z_n(\ell,\omega) = F\,\sum_{n=0}^{\infty}\,
{z_n^2(\ell,k_n) \over N_n\,(\omega_n^2-\omega^2)}
\qquad . \eqno (5.37) \end{displaymath}


Bei Berücksichtigung der Dämpfung müssen wegen $\omega_n\propto \sqrt{\underline{Y}}$ (Gl.$\,$(5.23)) auch die Eigenfrequenzen komplex werden:

\begin{displaymath}\omega_n \longrightarrow \omega_n^{\prime}\,\sqrt{1+i\eta}
\qquad . \eqno (5.38) \end{displaymath}

In der Nähe einer Resonanzstelle braucht in der Summe (5.37) nur der dominierende Term berücksichtigt zu werden, so daß sich ergibt

\begin{displaymath}\underline{z}(\ell,\omega) \simeq F\;
{\underline{z}_n^2(\el...
...}-\omega^2
+i\eta\omega_n^{\prime 2})}
\qquad . \eqno (5.39) \end{displaymath}

Setzt man $\omega+\omega_n^{\prime}\simeq 2\omega_n^{\prime}$ und $\eta \simeq 1/Q$, so erhält man für den relativen Betrag der Amplitude

\begin{displaymath}\left\vert {\underline{z}(\ell,\omega)
\over{\underline{z}(\...
... Q^2\, (\omega_n^{\prime} - \omega)^2}}
\qquad , \eqno (5.40) \end{displaymath}

also die vom gedämpften harmonischen Oszillator wohlbekannte Lorentzkurve. Aus der Breite der Resonanzkurve läßt sich die innere Reibung bestimmen. Es gilt nämlich

\begin{displaymath}Q^{-1} = {2\,\delta\! f\over f_{\rm res}} \qquad , \eqno (5.41) \end{displaymath}

wobei $2\,\delta\! f$ den Frequenzabstand der beiden Punkte bezeichnet, an denen die Amplitude auf $1/\sqrt{2}$ abgefallen ist (vgl.$\,$ Kap. 6.2.2).

Auch die Phasenverschiebung zwischen erregender Kraft und Auslenkung verhält sich genauso wie beim harmonischen Oszillator. Für den Phasenwinkel $\varphi$ ergeben sich also die Beziehungen (s. auch Abb. 6.4)


\begin{displaymath}\cos \varphi(\omega)
= {2\,Q\>(\omega_n^{\prime}-\omega) \o...
... 2} + 4\, Q^2\, (\omega_n^{\prime} - \omega)^2}}
\eqno (5.42) \end{displaymath}


\begin{displaymath}\sin \varphi(\omega)
= {\omega_n^{\prime} \over\sqrt{
\ome...
... Q^2\, (\omega_n^{\prime} - \omega)^2}}
\qquad . \eqno (5.43) \end{displaymath}


Der Frequenzgang der Amplitude läßt sich jedoch nicht nur in unmittelbarer Umgebung einer Resonanzstelle, sondern für beliebige Frequenzen oder Wellenzahlen bestimmen. Eine längere Rechnung ergibt nach /39/ den folgenden Ausdruck für die komplexe Schwingungsamplitude am freien Ende:

\begin{displaymath}\underline{z}(\underline{k},\ell) = {\underline{F}\over \unde...
...ine{k}\ell) \; \cosh(\underline{k}\ell)} \qquad , \eqno (5.44) \end{displaymath}

wobei die komplexe Wellenzahl $\underline{k}$ verwendet wurde:

\begin{displaymath}\underline{k} = \sqrt{\omega} \; \root 4 \of{{12\,\varrho \over d^2\,\underline{Y}}}
\qquad , \eqno (5.45) \end{displaymath}

die für kleine Dämpfung ($\eta \ll 1$) genähert werden kann durch

\begin{displaymath}\underline{k} = \sqrt{\omega} \; \root 4 \of{{12\,\varrho \over d^2\,Y^{\prime}}}
\; (1-i\eta/4) \qquad . \eqno (5.46) \end{displaymath}

Abb. 5.5 zeigt den Betrag der komplexen Schwingungsamplitude bei $x=\ell$ als Funktion des Realteils von $\underline{k}$ für zwei verschiedene Dämpfungswerte. Dabei wurde angenommen, daß die Dämpfung frequenzunabhängig ist.

Abb. 5.5 Der Betrag der komplexen Schwingungsamplitude (5.44) am freien Ende des Reeds als Funktion des Realteils der Wellenzahl $\underline{k}$ bzw.$\,$als Funktion der Frequenz (obere Skalierung) für zwei verschiedene (als frequenzunabhängig angenommene) Werte der inneren Reibung. Die Amplituden wurden auf die jeweiligen Amplituden im statischen Grenzfall ($f \to 0$) normiert.

Die beiden Kurven sind praktisch nur in unmittelbarer Umgebung der Resonanzstellen unterscheidbar. Die tiefen Minima resultieren aus dem Wandern der Schwingungsknoten durch das Plättchenende.

Die Abhängigkeit der Resonanzfrequenz von der Dämpfung stimmt nicht mit der vom gedämpften harmonischen Oszillator bekannten überein. Während dort für die Frequenz des Amplitudenmaximums die Beziehung

\begin{displaymath}{f_{\rm res}(Q^{-1}) - f_{\rm res}(0) \over f_{\rm res}(0)} =
\sqrt{1-1/2\>Q^{-2}} - 1 \eqno (5.47) \end{displaymath}

gilt, liefert eine numerische Untersuchung der Lage der Amplitudenmaxima nach
Gl.$\,$(5.44) ein komplizierteres Bild. Zwar ergibt sich auch hier näherungsweise eine quadratische Abhängigkeit von der inneren Reibung gemäß

\begin{displaymath}{f_{\rm res}(Q^{-1}) - f_{\rm res}(0) \over f_{\rm res}(0)} =
\sqrt{1+c_n\>Q^{-2}} - 1 \qquad , \eqno (5.48) \end{displaymath}

jedoch unterscheiden sich die Konstanten $c_n$ nach Vorzeichen und Betrag voneinander. Man erhält

\begin{displaymath}c_0 \simeq -0.327 \end{displaymath}

\begin{displaymath}c_1 \simeq \;\;\> 0.108 \eqno (5.49) \end{displaymath}

\begin{displaymath}c_2 \simeq \;\;\> 0.524 \qquad . \end{displaymath}

Abb. 5.6 illustriert dieses Verhalten.


Abb. 5.6 Die Abhängigkeit der Resonanzfrequenz von der inneren Reibung für die drei niedrigsten Schwingungsmoden. Die Parameter $c_n$ wurden durch Vergleich der Lage der Amplitudenmaxima nach Gl.$\,$(5.44) mit
Gl.$\,$(5.48) nach einem least-square-Verfahren gefittet.


Während die Resonanzfrequenz der Grundmode mit wachsender Dämpfung also zu kleineren Werten verschoben wird, steigt die Frequenz der Obertöne bei Zunahme der inneren Reibung an. Für Dämpfungen $Q^{-1} < 10^{-3}$ (wie in den Experimenten der vorliegenden Arbeit) sind solche Korrekturen allerdings ohnehin vernachlässigbar. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß die hier gefundenen Ergebnisse nicht mit dem Resultat aus /39/ übereinstimmen, wo $c_n \simeq (k_n\ell)^{4/3}$ ermittelt worden war.


5.5 Nichtlineare Effekte

In den vorausgehenden Abschnitten wurde das eingespannte Plättchen stets als lineares System betrachtet. Dies führte zwangsläufig auf eine lineare Bewegungsgleichung (Gln.$\,$5.14 bzw.$\>$5.31), deren Lösungen dem Superpositionsprinzip gehorchen und sich im Fall der erzwungenen Schwingung als Linearkombination der freien Eigenmoden schreiben lassen. Man kann erwarten, daß bei kleinen Auslenkungen des Reeds aus der Gleichgewichtslage -- und damit kleinen Verzerrungen -- diese Beschreibungsweise eine gute Näherung darstellt. Die dabei zugrundeliegende Theorie basiert auf der Annahme eines linearen Zusammenhangs zwischen der Verzerrung $e$ und der mechanischen Spannung $\sigma$, wie etwa in Gl.$\,$(5.1) (wobei diese Größen natürlich im allgemeinen Tensorcharakter haben). Auch für den anelastischen Festkörper, bei dem also Dämpfungseffekte eine Rolle spielen, ergibt sich ein linearer, wenngleich etwas komplizierterer Zusammenhang zwischen $e$ und $\sigma$ /40/, /41/:

\begin{displaymath}\sigma + \tau \dot \sigma = C_1e + C_2 \tau \dot e \eqno (5.50) \end{displaymath}

mit der Zeitverzögerung $\tau$ zwischen Spannungs- und Verzerrungsänderung und den Elastizitätskonstanten $C_1, C_2$, die sich mit dem Real- und Imaginärteil eines komplexen Moduls, wie er etwa in Gl.$\,$(5.28) eingeführt wurde, verknüpfen lassen.


Der Übergang zur nichtlinearen Beschreibungsweise erfolgt durch die Annahme, daß die elastischen Konstanten selbst Funktionen der Verzerrung sind und sich nach Potenzen von $e$ entwickeln lassen, wobei dann die Entwicklungskoeffizienten die Elastizitätskonstanten höherer Ordnung repräsentieren /42/. Im Grenzfall kleiner Verzerrungen ist nur der Term 0.$\,$Ordnung von Bedeutung, so daß man (5.50) zurückerhält. Es existieren verschiedene überlegungen, aus der Annahme eines solchen nichtlinearen Verzerrungs-Spannungs-Zusammenhangs eine Bewegungsgleichung für das Vibrating-Reed-System abzuleiten, die dann natürlich nicht mehr linear sein wird /43/, /44/. Darauf soll hier im einzelnen nicht eingegangen werden, jedoch seien einige bemerkenswerte Resultate, die sich teilweise auch aus Theorien für andersartige nichtlineare Systeme ergeben, kurz skizziert.

Schon die einfachsten nichtlinearen Bewegungsgleichungen wie z.B.$\,$die des anharmonischen Oszillators

\begin{displaymath}\ddot x + \omega_0^2 + \alpha x^2 + \beta x^3 = 0 \qquad, \eqno (5.51) \end{displaymath}

für den also die potentielle Energie bis zu Gliedern vierter Ordnung entwickelt wurde, lassen sich nicht mehr exakt lösen. Allerdings kann man das Verfahren der ,,sukzessiven Approximation`` anwenden, um wenigstens eine genäherte Lösung einer nichtlinearen Bewegungsgleichung zu erhalten (für Gl. $\,(5.51)\,\rm s.\,z.B.\,$/45/, /46/). Dabei ergibt sich u.a.$\,$das Auftreten von Kombinationsfrequenzen, was etwa für den anharmonischen Oszillator bedeutet, daß die Näherungslösung keine einfache periodische Form hat, sondern neben einem Hauptanteil der Frequenz $\omega$ auch Terme der Periodizität $n\omega$ enthält, wobei $n$ eine ganze Zahl ist. Die Amplituden der Kombinationsschwingungen wachsen mit $A^n$ an, wenn $A$ die Amplitude des Terms der Frequenz $\omega$ ist; ihr relatives Gewicht nimmt also mit größerwerdenden Auslenkungen zu.

Weiter zeigt sich, daß die Frequenz $\omega$ nicht mit der Eigenfrequenz $\omega_0$ des harmonischen Oszillators übereinstimmt, sondern eine (in zweiter Näherung) mit $A^2$ anwachsende Korrektur erfährt. Dabei hängen die Stärke und die Richtung der Frequenzverschiebung vom Betrag und Vorzeichen der Parameter $\omega_0, \alpha$ und $\beta$, bzw.$\,$, allgemeiner gesprochen, vom Betrag und Vorzeichen der elastischen Konstanten der verschiedenen Ordnungen ab. Der Effekt läßt sich gut beobachten, wenn man das System in der Nähe einer Resonanz zu erzwungenen Schwingungen anregt und die Frequenz der erregenden Kraft allmählich variiert. Abb. 5.7 zeigt das qualitative Aussehen der dabei entstehenden Resonanzkurven $A(\omega)$ für drei unterschiedliche Amplituden der erregenden Kraft.

Abb. 5.7 Die Frequenzabhängigkeit der Schwingungsamplitude $A$ bei von oben nach unten zunehmender Amplitude der erregenden Kraft (aus /47/).

Bei kleinen Amplituden (oberes Bild) ergibt sich der harmonische Grenzfall, die Resonanzkurve hat die Lorentzform (5.40). Mit wachsender Anregung verschiebt sich das Amplitudenmaximum zu (in diesem Fall) niedrigeren Frequenzen, die Kurve wird asymmetrisch. Bei noch größerer erregender Kraft beobachtet man schließlich ein überkippen der Resonanzkurve, was zu Sprungphänomenen führt: Nähert man sich der Resonanzstelle von der niederfrequenten Seite, springt die Amplitude am Punkt F nach H, während man von hohen Frequenzen (Punkt I) herkommend den Sprung erst nach Durchlaufen des Punktes H von der Stelle G nach E beobachtet. Ein schönes Beispiel für das Auftreten dieser Sprungphänomene bei einem Vibrating-Reed-System zeigt Abb. 5.8:

Abb. 5.8 Resonanzkurven eines Mn-7at%Cu-Reeds für verschiedene Anregungen mit zunehmender (hohle Kreise) und abnehmender Frequenz (ausgefüllte Kreise). Bei zusammenfallenden Meßpunkten wurden nur die hohlen Kreise gezeichnet. Die Pfeile deuten die bei der Resonanzkurve mit der größten Amplitude auftretenden Sprünge an (aus /44/).

Die Kurven kippen zunächst nach links (g), dann bei wachsender Amplitude nach rechts (f,e) und schließlich bei sehr großen Verzerrungen wieder nach links (d-a). Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Vorzeichen und Beträge der elastischen Konstanten höherer Ordnung ziehen /44/. In der gleichen Arbeit konnten außerdem die zugehörigen Resonanzkurven für die dritten Harmonischen (dreifache Frequenz der Grundschwingung) gemessen werden, deren Verzerungsamplituden bemerkenswert groß waren (für Kurve a etwa 40% der Verzerrung der Grundmode). Dies zeigt eindrucksvoll, daß bei großen Reedamplituden auch ganz andere Schwingungsformen als die für die lineare Theorie abgeleiteten Eigenmoden (5.26) existieren können.

Ein weiteres mögliches Merkmal anharmonischen Verhaltens ist die Amplitudenabhängigkeit der Dämpfung. Die Auslenkung eines linearen Systems aus seiner Gleichgewichtslage ist gerade proportional zu der Kraft, die es erfährt. Der Quotient $A/F$, der die Güte des Systems charakterisiert, ist also eine einfache Konstante. Im nichtlinearen Fall dagegen gilt dieser simple Zusammenhang nicht mehr notwendigerweise, die Schwingungsamplitude wächst dann -- je nachdem -- schneller oder langsamer als die Amplitude der erregenden Kraft. Eine einfache überprüfungsmöglichkeit dieses Verhaltens besteht in der Beobachtung des Amplitudenzerfalls nach Aussschalten der Anregung. Auf einer halblogarithmischen Skala müßte sich dann im linearen Fall (für das Reed gemäß Gl. (5.29)) ein geradliniger Verlauf in der Zeitabhängigkeit der Amplitude ergeben (s. z.B. Abb. 6.2). Ist dagegen die Dämpfung amplitudenabhängig, beobachtet man eine Krümmung des Graphen $\log A(t)$ (etwa wie in Abb. 8.3).

Bei der Interpretation einer solchen gekrümmten Kurve ist allerdings eine gewisse Vorsicht geboten, da die Krümmung auch eine andere Ursache haben kann: Regt man das System nämlich nicht genau mit der Resonanzfrequenz an, wird die resultierende Schwingung stets aus mehreren Moden zusammengesetzt sein, zwischen denen sich nach Ausschalten der äußeren Kraft Schwebungen herausbilden können. Dies führt natürlich ebenfalls zu Abweichungen von der Linearität der $\log A(t)\,$-Kurve (s.$\,$z.B.$\,$/48/).



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